Im Rahmen der Aktion Inklusion OWL, die am 7.12.2016 im Hotel Aspethera in Paderborn stattfindet, wurden die drei Fachreferenten zum Thema „Psychische Erkrankungen und die Arbeitswelt“ interviewt. An dem Interview beteiligten sich Johannes Tack (SPI Paderborn e.V.), Miriam Ertel (BTZ Benhauser Feld gGmbH) und Dietmar Esken (IBZ gGmbH).
Zum Umgang mit psychischen Erkrankungen in der Arbeitswelt und zu den Unterstützungsmöglichkeiten für Arbeitgeber äußern sich drei Fachexperten im Interview.
Johannes Tack: Diese Frage lässt sich nicht exakt quantifiziert beantworten. Wenn sie lauten würde: Nehmen psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz zu, dann kann die Frage mit einem großen Ja beantwortet werden. Dies belegen übereinstimmend die Gesundheitsberichte der verschiedenen Krankenkassen. Entsprechend nimmt auch der Krankenstand zu. Dadurch bedingt werden psychische Erkrankungen häufiger in unserer Gesellschaft wahrgenommen, zumal der zeitliche Ausfall wegen einer psychischen Erkrankung am Arbeitsplatz nicht selten mehrere Wochen, wenn nicht sogar Monate, dauert. Hierfür gibt es viele Gründe: Arbeitszeitverdichtung, zunehmende Mobilität, Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes und ein aggressiver Wettbewerb. Beschleunigung, Termindichte sowie mangelnde Zeit spielen dabei sicherlich auch eine Rolle. Es bedarf schon einer robusten Natur und Widerstandsfähigkeit, um mit diesen veränderten Bedingungen in der Arbeitswelt zurechtzukommen.
Johannes Tack: Vorgesetzte unterliegen einem ebenso großen Leistungsdruck wie ihre Mitarbeiter, manchmal sogar einem bedeutend höheren, lastet schließlich auf ihren Schultern noch mehr Verantwortung. Wer Personalverantwortung in einem Unternehmen trägt, sollte besonders in der Personalführung geschult sein. Dazu zählen natürlich auch ein gutes Einfühlungsvermögen und umfangreiche Kenntnisse im Umgang mit Menschen. Entsprechende Schulungen sollten selbstverständlich auch Grundkenntnisse im Umgang mit krankheitsbedingten auffälligem Verhalten beinhalten. So bekäme der Vorgesetzte Handlungskompetenz, das Thema sensibel bei betroffenen Mitarbeitern anzusprechen und für Verständnis im Umgang unter Kollegen zu werben. Auch könnten Kooperationen mit psychosozialen Trägerorganisationen oder – je nach Größe des Unternehmens – speziell eingeplantes psychologisches und ärztliches Fachpersonal eine große Unterstützung darstellen. Diese könnten rechtzeitig bei einer sich anbahnenden psychischen Erkrankung zu Rate gezogen oder mit einbezogen werden.
Miriam Ertel: Zunächst einmal ist es ein wichtiger Schritt, sich als Arbeitgeber überhaupt die Tatsache bewusst zu machen, dass es Betroffene in der eigenen Belegschaft geben kann. Dazu sollte jede Unternehmensleitung eine offene Haltung einnehmen und auch in die Belegschaft kommunizieren, dass es „in Ordnung“ ist, mit seiner Erkrankung oder Belastung offen umzugehen. Schritt eins: Ansprechen, nicht wegducken! Befürchtungen und Beobachtungen dem betroffenen Mitarbeiter mitteilen: „Ich sehe, es geht dir nicht gut, deine Krankentage häufen sich, ich mache mir Sorgen!“. Authentische Führungskräfte sind auch in der Lage, mit ihrer eigenen Unsicherheit umzugehen – begeben Sie sich auf Augenhöhe! Dem Mitarbeiter hilft es auch zu hören, dass der eigene Chef nicht alles weiß und kann. Mit der Grundhaltung „Ich weiß jetzt nicht, was ich als Chef tun kann, aber wir suchen uns gemeinsam Unterstützung“ ist einem Mitarbeiter mehr geholfen, als von oben herab abgekanzelt zu werden. Wichtig ist es auch, die nachfolgende Belastung der Teams im Blick zu haben, die Arbeit eines Betroffenen muss ja gegebenenfalls aufgefangen werden.
Johannes Tack: Es gibt viele Anzeichen, an denen eine sich anbahnende psychische Erkrankung erkannt werden kann. Das hängt natürlich von der jeweiligen Erkrankung ab. Allgemein lässt sich sagen, dass psychisch kranke und behinderte Menschen grundsätzlich dünnhäutiger (vulnerabler) sind als andere Personen. Gut wäre, wenn ein so großes Vertrauensverhältnis im Betrieb besteht, dass der Vorgesetzte um die Erkrankung seines Mitarbeiters weiß. Dann könnte er bei sog. Frühwarnzeichen sensibel reagieren und gegebenenfalls betriebliche Risikofaktoren ausschalten. Frühwarnzeichen sind z.B. Nervosität, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Verstimmungsgefühle, Rückzugsbedürfnis, körperliches Fremdempfinden – eben Symptome, die über das übliche Verhalten deutlich hinausgehen. Aber auch Zerfahrenheit, ungepflegtes Auftreten, beginnendes distanzloses Verhalten können Anzeichen einer Erkrankung sein. So denn ein Vorgesetzter diese veränderten Verhaltensweisen als krankhaftes Verhalten und nicht einfach als unangemessenes Verhalten wahrnimmt, kann er einen leichteren Zugang zum Betroffenen herstellen, für Rücksichtnahme bei Kollegen werben, gegebenenfalls den Mitarbeiter vorübergehend aus einem betrieblich mit hohen Stressoren besetzten Kontext nehmen oder ihn auch bitten, sich vorübergehend krank schreiben zu lassen. Wissend um die Erkrankung seines Mitarbeiters kann er auch seine eigenen damit verbundenen Affekte besser steuern. Kleiner Tipp: Das Bundesministerium für Gesundheit hat zusammen mit dem Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V., dem Aktionsbündnis Seelische Gesundheit und dem BKK Dachverband eine Broschüre „Psychisch krank im Job – Verstehen, Vorbeugen, Erkennen, Bewältigen“ herausgegeben, eine leicht verständliche, aber sehr gute Praxishilfe für Vorgesetzte und Mitarbeiter.
Miriam Ertel: In der täglichen Praxis erlebe ich immer wieder, dass es viele Wissenslücken und falsche Annahmen zum Thema psychische Erkrankungen gibt. „Die“ Symptome, wie bei einer somatischen Erkrankung gibt es leider nicht – Feingefühl und sensibles Hinschauen sind unerlässlich, um Warnsignale zu erkennen. Gute Führungskräfte nutzen die Gelegenheit, sich fortzubilden und ihren eigenen Führungsstil zu reflektieren. Die Alarmglocken sollten allerdings immer klingeln, wenn sich ein Mitarbeiter zurückzieht und die Arbeitsleistung erkennbar nachlässt oder bereits vermehrte Krankentage zu verzeichnen sind.
Johannes Tack: Allgemein kann erst einmal gesagt werden, dass ein gesundes Betriebsklima eine wichtige Grundvoraussetzung für seelische Stabilität eines betroffenen psychisch kranken und behinderten Menschen ist. Das ist aber erst einmal sehr abstrakt gesagt. Für ein gesundes Betriebsklima spricht zunächst eine hohe Akzeptanz im kollegialen Kontext, eben ein respektvoller Umgang miteinander, geprägt von Toleranz und Verständnis in einer Arbeitsgruppe, Abteilung, ja bestenfalls im gesamten Betrieb. Eine Führungskraft sollte darauf achten, dass die Stressoren, die auf den jeweiligen Arbeitsplatz einwirken, so gering wie möglich gehalten werden. Sie sollte darauf achten, dass das Arbeitsklima weitestgehend angstfrei gestaltet wird und dass es bei hohem Stressaufkommen zu einem gesunden Ausgleich kommt. Dies können unterschiedliche, z.B. Stress abbauende Angebote im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements sein. Das Wichtigste ist aber immer die Führungskraft als Person, die Schutz gibt, an die ein Betroffener sich angstfrei wenden kann und die Verständnis für eine psychische Erkrankung hat und einem betroffenen Mitarbeiter selbstverständlich begegnet wie einem, der an einem somatischen Leiden erkrankt ist
Miriam Ertel: Bis es zur absoluten Arbeitsunfähigkeit kommt, muss viel passiert sein. Das gilt es auf jeden Fall zu verhindern! Sollte ein Mitarbeiter akut betroffen sein und für eine längere Zeit medizinische Unterstützung oder einen stationären Aufenthalt zur Stabilisierung benötigen, ist es wichtig im Kontakt zu bleiben, um die Schwelle des Wiedereinstiegs zu verringern. Gemeinsam mit einem behandelnden Facharzt oder Therapeuten kann man dann die Wiederaufnahme der Tätigkeit thematisieren. Die Krankenkassen sprechen von „stufenweiser Wiedereingliederung“ über mehrere Wochen, in der die tägliche Arbeitszeit sukzessive gesteigert wird. Unerlässlich ist es natürlich zu überprüfen, welche Anteile der Tätigkeit die Erkrankung hervorgerufen oder verstärkt haben, da ist die Führung in der Verantwortung. Die arbeitsplatzbezogenen Belastungen sollten reduziert werden, um eine nachhaltige Arbeitsfähigkeit sicherzustellen.
Wenn im Anschluss an eine medizinische Rehabilitation die Arbeitsfähigkeit noch nicht wiedererlangt werden konnte, greifen Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation. Diese werden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben genannt und von der Deutschen Rentenversicherung, der Agentur für Arbeit oder den örtlichen Jobcentern finanziert. Rehabilitationsträger wie das BTZ, die SPI oder die FAW bieten diese Leistungen an. Ziele können z.B. die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit oder – im Falle, dass die Rückkehr in den erlernten Beruf nicht mehr möglich ist – eine berufliche Neuorientierung sein.
Miriam Ertel: Dass Leistung und Bauchgefühlt stimmen! Ein ausführliches Informationsgespräch beim Maßnahmeträger ist die Basis einer guten Entscheidung. Im BTZ bieten wir außerdem unverbindliche Hospitationstage an, in denen man unsere Arbeit „live“ erleben kann, ohne sich sofort zu entscheiden.
Dietmar Esken: In dem, im günstigsten Fall, sehr viel bekannt und systematisch dokumentiert ist sowohl über die Fähigkeiten und Einschränkungen des Klienten als auch über die Voraussetzungen, Anforderungen und Gegebenheiten des Arbeitsplatzes. In einem durch unsere sehr gut qualifizierten Mitarbeiter initiierten und begleiteten Matching-Verfahren mit Hilfe von aufklärenden Gesprächen, Praktika und Probebeschäftigungen gelingt es oftmals die „richtigen“ Partner zusammenzubringen und ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis zu begründen.
Miriam Ertel: Indem man sich die Arbeitsplätze und die Fähigkeiten der Mitarbeiter genau ansieht. Dabei sind die Tätigkeiten, aber auch die Arbeitsumgebung (Lärm, Gerüche etc.) wichtig. Welche Belastungsfaktoren könnten hinter einer Tätigkeit stecken und was bedeutet das dann für einen erkrankten Mitarbeiter? Das gilt übrigens nicht nur für psychische Erkrankungen, einem gehbehinderten Mitarbeiter würden Sie ja auch keinen Job anbieten, der täglich mit langen Wegstrecken verbunden ist. Unserer Erfahrung nach wissen Betroffene sehr gut, welche Tätigkeit und Arbeitsumgebung für sie gesunderhaltend ist, das wird oft therapeutisch reflektiert.
Dietmar Esken: Grundsätzlich stehen jedem Arbeitnehmer mit einer Schwerbehinderung und/oder einer anerkannten psychischen Erkrankung Hilfen zu. Im Rahmen der im SGB IX geregelten Arbeitssicherung wird u. a. für die Betroffenen und/oder den Arbeitgeber ein niederschwelliges Beratungsangebot durch Integrationsfachdienste (IFD) gewährleistet. Die Mitarbeiter des IFD können im laufenden Arbeitsverhältnis immer wieder kurzfristig eingeschaltet werden. Sie können vielfältige Hilfen, vom z. Bsp. Job-Coaching bis zum finanziellen Minderleistungsausgleich, initiieren und begleiten. Oft zeigt es sich auch, dass ein durch die Mitarbeiter des IFD eingeleitetes „einfaches“ klärendes Gespräch zwischen den Parteien innerbetriebliche Lösungen ermöglicht.
Miriam Ertel: Sprechen Sie das erst mal mit dem Mitarbeiter selber an: „Was kann ich jetzt als Vorgesetzter tun, damit du wieder gut arbeiten kannst? Aber auch „Was kannst du selber tun, damit es dir bessergeht?“ Beide tragen gleich viel Verantwortung. Fakt ist: Jeder kennt Phasen schwankender Leistungsfähigkeit, das muss nicht immer auf eine akute Erkrankung oder Verschlechterung hindeuten, trotzdem sollte man immer – und zwar auch bei Mitarbeitern ohne psychische Erkrankung – sensibel dafür sein, wie es den Mitarbeitern geht. Mitarbeiter, die eine psychische Erkrankung haben, sind oft in therapeutischer und fachärztlicher Behandlung, diese Anlaufstellen sollte in jedem Fall aktiviert oder angebahnt werden. Mittelfristig kann man den Integrationsfachdienst oder Rehabilitationsträger wie das BTZ, die SPI oder die FAW mit ins Boot holen, um gemeinsam auf den Prozess zu schauen und sich fachlichen Rat zu holen. Ich plädiere immer dafür, langfristig Strukturen im Unternehmen aufzubauen, z.B. ein Gesundheitsteam oder Vertrauensmitarbeiter. Größere Unternehmen leisten sich mittlerweile Teams, die als Sozialdienst für die Belegschaft Ansprechpartner sind. Fakt ist: Kein Unternehmen kann es sich leisten, auf gut ausgebildete Fachkräfte, ob mit oder ohne Erkrankung, zu verzichten!
Dietmar Esken: Darauf gibt es keine pauschale allgemeingültige Antwort. Abgeleitet aus den individuellen Rahmenbedingungen der betroffenen Klientel ergeben sich für jeden einzelnen „Mindest-Anforderungen“ oder auch „beste Voraussetzungen“ hinsichtlich der Arbeitsplatzgestaltung. Je besser die Abstimmung möglich ist desto höher ist die Wahrscheinlichkeit auf einen ungestörten Arbeitsprozess. Entscheidender ist aber in der Regel das Miteinander im Kollegenkreis, die Verständnis und Toleranz für die Erkrankung ihres Kollegen entwickeln oder nicht.
Dietmar Esken: Grundsätzlich ist ein psychisch erkrankter Mitarbeiter ein Kollege wie jeder andere auch. Er sollte die gleiche Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren. Ein in der Sache klare und eindeutige Kommunikation vermeidet Missverständnisse. Empathie und Wissen über die speziellen Voraussetzungen der Mitarbeiter verhindert Diskriminierung und hilft der Führungskraft sein Selbstbewusstsein zu erhalten und die Verhältnismäßigkeit im Umgang mit dem Betroffenen und dem nicht Betroffenen zu wahren.
Vielen Dank für das Interview!